Wie barrierefrei ist Stendal? Dieser Frage ist EUTB-Beraterin Annemarie Kock gemeinsam mit der Interessengruppe "Barrierefreies Stendal" nachgegangen, die sich auch im Rahmen der Aktion Wheelmap engagieren. Mit dabei waren Vertreter des Teilhabe-Managements der Stadt, des Seniorenrates, Journalisten, Kommunalpolitikern und Bildungsfachkräften der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Gemeinsam haben sie die Wege rund um den Hochschulstandort und das nahegelegene Krankenhaus erkundet. Ihr Ziel: erfahren, ob die Straßen und Wege für Menschen mit Sehbeeinträchtigung, Problemen der Aufmerksamkeit oder im Rollstuhl barrierefrei nutzbar sind.
Dass es in Stendal noch viel zu tun gibt, weiß die Beraterin der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) nur zu gut: Sie selbst ist von Geburt an blind. Unebene Fußwege, unvermutete Baustellen oder nachlässig abgestellte E-Scooter auf den Fußwegen machen es vielerorts nicht einfach, vorwärtszukommen. Und sie ist damit nicht allein: "Es kommt oft genug vor, dass die Kugel vom Blindenstock im Pflaster oder in einem Zaun stecken bleibt", erzählt ein Teilnehmer des Rundgangs in Stendal.
Der totale Kontrollverlust: Rollstuhl und blind sein
Während ihrer Arbeit kann Annemarie Kock auf ihre Assistentin zurückgreifen. Auf sie kann sie vertrauen, auch bei der Orientierung. Trotzdem bringt die Runde mit der Interessengruppe auch für Annemarie Kock unerwartete Erfahrungen: Sie nimmt im Rollstuhl Platz. Zuvor hat sie noch Simulationsbrillen verteilt, mit denen sich unterschiedliche Sehbeeinträchtigungen nachempfinden lassen, und die Nutzung des weißen Langstocks erklärt, der es blinden Menschen ermöglicht, sich im öffentlichen Raum zu orientieren.
Schon nach wenigen Metern entfährt Annemarie Kock ein erschrockenes "Huch". Ihr Rollstuhlbegleiter hat das Gefährt leicht nach hinten angekippt, um eine nicht einmal zwei Zentimeter hohe Wegkante zu überwinden. Und schon folgt die nächste Überraschung: "Das ist aber sehr unangenehm", sagt die EUTB-Beraterin, als der Rollstuhl über einen gepflasterten Weg geschoben wird. Das dekorativ aussehende Kleinsteinpflaster ist uneben, die Lücken dazwischen sind groß genug, um den Rollstuhl - und damit dessen Insassin - ordentlich durchzuschütteln.
Schon nach wenigen Metern Weg stellt Annemarie Kock fest: "Das ist eine interessante Erfahrung. Und so ungewohnt. Ich habe überhaupt keine Kontrolle. Blind zu sein und im Rollstuhl zu sitzen - da muss man schon sehr viel Vertrauen aufbringen. Das ist alles so wackelig."
Kein Spielplatz für jedermann
Aber auch ihre Begleiter, vor allem der junge Mann, der den Rollstuhl schiebt, müssen ganz schön manövrieren. Am Ende des ersten Teilweges warten zwei große Steinpoller. Als der Rollstuhl mit Annemarie Kock durchgeschoben wird, bleiben links und rechts nur wenige Zentimeter Platz.
An einem Spielplatz, wenige Meter entfernt, ist die Situation nicht besser. Am Zugang sind zwei rot-weiße-Absperrungen aufgestellt: die eine direkt am abgesenkten Bordstein, die zweite knapp zwei Meter dahinter. Was Fahrzeuge wie Mopeds abhalten soll, hält auch Menschen mit Kinderwagen - oder eben einem Rollstuhl davon ab -, auf den Spielplatz zu gelangen.
Ja, in Sachen Barrierefreiheit gibt es noch viel zu tun. Nicht nur in Stendal. Annemarie Kock hat die Erfahrung des Rundgangs in ihrer Arbeit als EUTB-Beraterin und als Engagierte bestärkt: "Es war ein schöner Tag. Und es hat mich gefreut, dass es so viele Interessentinnen und Interessenten dafür gab, dass Stendal barrierefreier wird", sagt Annemarie Kock. "Die Erfahrung im Rollstuhl, dieser totale Kontrollverlust, hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen dabei zu unterstützen, dass sie im Alltag mehr teilhaben können." Von ihren lebenslangen Erfahrungen, aber auch jenen aus solchen Aktionen, könnten viele Menschen profitieren. "Und ich kann sie so auch besser beraten."