Besuchsdienst taucht in die Welt der Sehbehinderten ein

Es ist ein Abend voller Erkenntnisse, ein Abend, der nachdenklich stimmt – aber auch Mut gibt. Ehrenamtliche des Besuchsdienstes haben ihren gemeinsamen Abend den Herausforderungen und Möglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen gewidmet. Nach dem vergangenen Jahr unter dem Motto „Leben mit den Sinnen“ wurde diese Veranstaltung nun nachgeholt.

Zu Gast sind Lars Lippek, Geschäftsstellenleiter des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Sachsen-Anhalt, und Daniela Waiß, Leiterin der Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ in Stendal. Beide kennen sich aus: Lars Lippek ist von Geburt an blind, Daniela Waiß erlebt die zunehmende Sehbehinderung seit Kindheitstagen. Den Ehrenamtlichen rund um Koordinatorin Katrin Leuschner haben sie an diesem Abend aber nicht nur Erfahrungen und Geschichten mitgebracht, sondern auch Hilfsmittel, mit denen sie und andere höchstmöglich Selbstständigkeit im Alltag erreichen können.

Wenn plötzlich Dunkelheit einzieht

„Blindheit kann von Geburt an bestehen, aber auch durch Alter, Erkrankungen oder Unfälle entstehen“, erklärt Lippek. Besonders schwierig sei es für Menschen, die plötzlich ihr Augenlicht verlieren. „Da fällt man erst mal in ein tiefes Loch. Und dann steht die Frage im Raum: ‚Was mache ich jetzt?‘“, erzählt Lippek. Noch schlimmer sei oft die Hilflosigkeit der Angehörigen, die nicht wissen, wie sie helfen können.

Dabei sei die größte Barriere nicht die Blindheit selbst, sondern die Unsicherheit der Gesellschaft. „Die größte Barriere im Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen? Die ist im Kopf“, sagt Lippek. Viele trauten sich nicht, Blinden oder Sehbehinderten Hilfe anzubieten, aus Angst, etwas falsch zu machen. „Aber man kann gar nicht so viel falsch machen. Man muss nur einen Gang runterschalten, alles etwas langsamer angehen.“

Alltagshürden, die Sehende nicht bemerken

Ein einfacher Gang zum Bäcker kann zur Herausforderung werden. „Gehen Sie mal mit einem Blindenstock in der Hand zum Bäcker und fragen Sie, welche Brote es gibt“, erzählt Daniela Waiß. „Die Antwort ist oft: ‚Na, alles, was Sie hier sehen.‘“ Ein ungläubiges Stöhnen geht durch den Raum.

Doch nicht nur unbedachte Antworten machen den Alltag schwierig. Dinge mitten im Raum stehenzulassen oder Fenster unkommentiert zu öffnen, kann für einen blinden Menschen gefährlich sein. Und dann gibt es technische Hürden: „Touchdisplays sind ein großes Problem. Wer nichts sieht, weiß nicht, wo die Kontaktpunkte sind“, sensibilisiert Lars Lippek für die Alltagsblindheit der Gesellschaft. Es gibt zwar Schablonen zum Umrüsten, aber längst nicht für alle Geräte.

Die Ehrenamtlichen dürfen an diesem Abend selbst erleben, welche Hilfsmittel Blinden und Sehbehinderten mehr Selbstständigkeit ermöglichen. Sie nehmen einen Fühlstandsmesser in die Hand, der signalisiert, wann eine Tasse voll ist – kein Überlaufen, keine verbrühten Finger. Sie hören eine sprechende Uhr, erfahren, dass schwarze Platzdeckchen Kontraste verbessern können. Und sie staunen über Apps, die Texte vorlesen oder sogar die Raumumgebung beschreiben. Lippek demonstriert eine dieser Apps live: Er hält sein Smartphone hoch, die Kamera erfasst den Raum und eine monotone Stimme sagt: „Silberne Kanne, blaue und rote Servietten, Flaschen, Gläser.“ Die Ehrenamtlichen sind beeindruckt – manche murmeln „Das ist ja krass“.

Der Kampf um gesellschaftliche Teilhabe

Trotz all dieser technischen Errungenschaften bleibt eine große Hürde bestehen: die gesellschaftliche Akzeptanz. „Es war lange schwer, Arbeitgebern zu vermitteln, dass Sehbehinderte genauso leistungsfähig sind wie Sehende“, erzählt Waiß. „Vorurteile machen blind – aber nicht die unmittelbar Betroffenen.“

Auch im öffentlichen Raum gibt es viele Missverständnisse. Leitstreifen auf Bahnsteigen – die gerillten Flächen, die Blinden zur Orientierung dienen – werden oft nicht als solche erkannt. Lippek erzählt eine Anekdote: „Einmal bin ich auf eine Hand getreten, weil jemand seinen Gebetsteppich genau auf dem Leitstreifen ausgebreitet hatte.“ Ein leises Lachen geht durch den Raum.

Ein Abend, der bleibt

Am Ende dieses intensiven Abends sind die Ehrenamtlichen beeindruckt – und haben viele Fragen. Auch wie das so ist, blind zu sein und nur noch teilweise sehen zu können. Man merkt: Die vielen Eindrücke haben einen Aha-Effekt bewirkt und spüren lassen, dass selbst im eigenen Alltag gar nicht darüber nachgedacht wird, wie etwa Haushaltsgeräte den Alltag der einen erleichtert, dasselbe Konzept anderen die Orientierung jedoch erheblich erschwert. Doch eines ist sicher – alle gehen mit einem neuen Blick auf die Welt blinder und sehbehinderter Menschen nach Hause. „So plump es klingt: Das Leben geht weiter“, sagt Lippek. Und genau das ist die wichtigste Botschaft dieses Abends: Niemand ist mit seiner Einschränkung allein. Es gibt Wege, es gibt Lösungen – man muss sie nur kennen und so wie nun die Ehrenamtlichen weitergeben können.